2021, April

1. 4.

Ich sage Dinge nur für dich. Deswegen sage ich Dinge.

3. 4.

Fixed in the existence of your gaze.

Über Kierkegaard steht, dass er ohne Regine Olsen nicht verstehbar sei.

Das Schicksal hat unsere Existenzen ineinander verkrümmt. Stahl faltet sich zu einem Geflecht unseres Flüsterns. Wir sind hermeneutisch unbestimmt verwoben. Unser Begreifen der Welt und damit alles, was wir imstande sind zu sein, gerinnt aus dem raunenden Schimmern unserer gegenseitigen Anwesenheit.

Wir können uns nicht mehr auseinanderschneiden. Es ist zu spät. Wir haben bereits Haare und Haut, Sprechen und Gehen, Stimme und Gefühl, voneinander angenommen.

4. 4.

Mein Sein steht und fällt in dem Verstehen, mit dem du mich hältst.

5. 4.

Öffne die Tür zu Veras Zimmer, falle mit einem Weinkrampf in ihr Bett und warte, bis sie mich umarmt.

[Es passiert etwas, das ich nicht weiter definieren kann. Ein neuer Bruch, eine neue, schrecklichere Verletzung mit E.]

Ich fange jetzt ganz neu an.
Kunstkarriere abgehakt.
Nichts ist jetzt wichtig, außer zu überleben.

Ich zähle jetzt die Minuten jeden Tag.
Und ich schreibe entlang meines Schmerzes.
Und ich werde ledrig und verbittert.
Doch ich kann es aufbrechen.

Ich sagte immer: Trennungen werden davon bestimmt, in wie weit man gehen kann.

Ich wünschte, das Gefühl, das ich gerade habe, würde bleiben. Diese Offenheit und Akzeptanz.

6. 4.

Was ich lange nicht wahrhaben wollte, war, wie schlecht es mir geht.
Ich wollte es kompensieren und einen Ausweg finden.
Doch akzeptieren, wie gerade, wollte ich es nie.

7. 4.

Heute morgen im Bad dachte ich: Für manche Wahrheit braucht es nicht Zwei.

8. 4.

Noch schlimmer, als der Allgemeinheit anheimzufallen, ist, sie negativ zu beschreiben.

9. 4.

Wenn jeder Zug unser pluralisch sei, jedes Denken sich einem Gemeinsamen entlehnt, dann ist diesem auch seine Abwesenheit eingeschrieben.

Das Gruppendenken verfällt der Zeit, wird unbeständig. Es braucht die Einzelnen, die, wenn auch nur in Teilen, es anreichern mit ihren Wegen.

10. 4.

Sprache zündet in dem Maße, wie sie verständlich wird. Wie sie im Verstehen der Verstehenden bildhaft und anschaulich gerät.

11. 4.

Der Fehler war, es schaffen zu wollen. Ausbrechen zu wollen.

12. 4.

For today, the plan was to get by. Overeating is part of it.

Auch Bäume verlieren im Winter ihre Blätter. Es ist okay, als Mensch zu vergehen.

13. 4.

In der Wüste gibt es wenig Wasser. Doch Leben gibt es in ihr.

Das Leben in dieser Todesgeweihtheit ist deins. Denn auf den verstorbenen Körpern tobt das Leben, und es wird tanzen immerzu.

Jeder übernommene Satz dieser Kultur ist ein Riss an mir.

Mir ist es unangenehm, wenn Menschen auf der Straße mich hören. Viele in Neukölln wechseln ins Türkische, wenn ich an ihnen vorbeilaufe.

Doch die schlimmsten Deutschen sprechen so oberflächlich, sind so unselbst, dass es auch egal ist, was sie da sagen, und ob sie jemand hört.

It’s hard to show your real self to others.

14. 4.

Mir geht es schlechter, als ich mir das eingestehen kann.
Ich vermisse die Menschen mehr, als ich mir das eingestehen kann.

Ich verstecke mich aktiv. Wenn ich mich immer gezeigt hätte, als ich mit Menschen zusammenstieß, würden sie mich kennen.

15. 4.

Mein Projekt ist kein akademisches, sondern eines des Lebens. Ich wollte den Theorieversuchen Fleisch ansetzen. Ich wollte ein Leben ausmalen. Ich wollte ein Leben zeigen und dadurch selber leben. Ich bin gescheitert. Es gibt kein Leben mehr. Es gibt kein Selbst mehr. Es gibt nur noch mein Scheitern. Und in diesem Nichtkönnen liegt mein Beginn.

Poetry shouldn’t look and feel like poetry.
Theory shouldn’t look and feel like theory.

Mit jedem Satz und jedem Wort schaffen wir einen Raum.

16. 4.

Sobald man sich etwas eingesteht, eine Schwäche, hat man sie eigentlich schon überwunden.

Ich produziere diese Texte wie Samen in der Erde, wie Reben in den Hängen. Ich sammle und lese jedes Jahr.

17. 4.

Wir können erst dann offen auf uns schauen, wenn unser Suchtverhalten schmerzhafter geworden ist als die Realität, die es verdrängt.

Ich erwachse den Verletzungen, dem Scheitern, dem Unvermögen.

Sie haften mir an. Der Stamm, in den sie geschnitten sind, ist meine Integrität. Ich kann mich halten. Ich kann bestehen.

Es heißt, nicht zu blühen, aber es heißt, zu überleben. Und kein Baum blüht das ganze Jahr.

Die Menschen sind ein Volk mit Wundern gesegnet. Die Wunder gehören zum Wesen ihrer Existenz.

Denn alles, was uns umtreibt, sind die Menschen. Wir werden gekränkt und geschandet immerzu. Doch die Wunder kommen auch zu uns – jeden Tag.

Wer wurde gesehen von seinen Eltern? Ich kenne diese Menschen nicht.

Wir wurden nicht gesehen von unseren Eltern, in unserer Kindheit, im Erwachsenenleben. Wir sind ungesehene, unerkannte Wesen.

Wenn wir uns nun Sexualpartner aussuchen, Liebespartner, Lebenspartner, berühren wir diesen Bereich.

Unsere Sexualpartner können uns sehen. Wir erhoffen uns, von ihnen gesehen zu werden. Darum geht es in Liebe und Sexualität: um gesehen, erkannt, und exegiert zu werden.

Wenn wir nun lebenslang nicht gesehen wurden, suchen wir uns Partner, die uns nicht sehen können. Es gibt hier verschiedene Ausprägungen.

Es sind Menschen, die ihrerseits nicht gesehen wurden, und dieses Nichtsehen sich selbst und anderen gegenüber fortführen.

Ich nenne sie die selbstfernen Menschen.

Die Liebe schläft in diesen Menschen. Wir möchten, dass sie zu uns kommt.

Wir treten in selbstferne Anerkennungsschema, und versuchen sie zu befriedigen. Wir versuchen einem Menschen gefallen, gerecht zu werden, von ihm geliebt zu werden.

Doch wir wollen, das ist wichtig, nicht als wir selbst geliebt werden, sondern als selbstferne Versionen unserer selbst. Wir wollen anerkannt werden als etwas, das wir sein wollen, aber nicht sind.

Denn zurückgewiesen zu werden auf eine selbstferne Art verspricht uns, weniger verletzend zu sein, als zurückgewiesen zu werden für das, was wir wirklich sind.

*

Mir geht es darum, das Leben zu akzeptieren. Und in Kauf zu nehmen, dass sich seine »Fakti« niemals ändern. Dass man immer den Limitiertheiten der eigenen Startbedinungen verhaftet bleibt. Und dass man darin schön ist. Dass es nicht darum geht, etwas zu entwerfen, etwas zu sein, irgendwo hinzukommen. Sondern so wie man ist, als was man ist, leuchtet und reicht aus. Ist genug. Ist der Endpunkt. Das Equilibrium der Existenz.

Denn in diesem Scheitern leuchtete immer auch die Gegenseite. In diesem Weg des Scheiterns, in dieser katastrophalen Sequenz gab es schon Leben immerzu. Es gab immer ein Leuchten. Das, was dort leuchtete, die Momente des Leuchtens, waren nicht nur ein Überkommen, Entwerfen oder Überwinden. Das, was da leuchtete, war auch die Magie des Überlebens selbst. Des puren Am-Leben-seins, wie man es sich selten zu spüren erlaubt.

Selbstnähe bedeutet für mich Auseinandersetzung mit der eigenen Fatalität. Wir liegen mit jeder Faser im Scheitern. Alles an uns ist gebrochen und kaputt. Wir sind nichts. Kein Stück, kein Ganzes, kein Souverän. Das Beste, was wir können, ist die Scherben zu sammeln von dem, was war.

Und in dieser Sammeltätigkeit liegt Hoffnung, diese Sammeltätigkeit ist Hoffnung. Die Scherben einer zerbrochenen Vase, die nie war. Wir sehen unser Bild in der Assoziation der Bruchstücke unseres Scheiterns.

Hoffnung ist keine Stufe zu erschreiten, sie ist etwas in uns.

Solange unsere Existenz ertragbar ist, quellt schon unser Am-Leben-sein. Wir müssen nichts tun. Wir sind Maschinen der Hoffnung. Unersättlich strömt aus uns die Eigenheit. Jeder Gang, jedes Aufschlagen, alles Tun und Denken, ist ein Fanal unseres Widerstreits.

Dazu kommen die Unmöglichkeiten, für die wir nichts tun müssen, als durchzuhalten uns zu zeigen.

Die Menschen verlieben sich ständig in uns, wir können nichts dagegen tun. Wir werden auf der Straße angefallen von Liebesglückwünschen. Wir müssen nichts tun, und die Menschen lieben uns.

Das einzige Kriterium ist das Maß, in dem wir uns zeigen. Wir müssen den Menschen die Möglichkeit geben, uns zu lieben. Wir müssen uns lieben lassen.

Es gibt auch die Kritik, das Wegschauen und die Verneinung. Entfremdende menschliche Erfahrungen. Es geht darum, sie auszuhalten wie den Regen. Wir müssen eine Rinde haben und in den Wettern stehen. Das ist die Existenz. Wir stehen und überdauern die Zeit. In ihr sind wir das Schönste. Und die Menschen und Dinge verlieben sich in uns.

Die Blüte und die Befruchtung, die Lebensnahrung, die wir genießen, sie sind nicht der Normalzustand – sie sind das Unmögliche. Das Normale ist das Harren, das Warten, das Überdauern. Das Besinnen auf die eigene Agonie. Uns warm halten, uns pflegen, uns schützen. Das Leben ist kein Sturz roten Weins. Wir stehen im Wind und überdauern. Bis die Momente kommen, in denen wir blühen, in denen wir fliegen, in denen wir unsere Form verlassen, den Ort wechseln, und die Welt be-geistern.

19. 4.

Ist es nicht, bei Liebe und Sexualität, dass wir einen Menschen sehen, der das Gleiche durchgemacht hat wie wir, der wir sind, mit dem wir verschwimmen, bevor wir uns nur kannten, und mit dem wir uns, nun, vereinigen möchten.

Ich kann mich nur verstehen, wenn ich meine Zerbrochenheit fühle.

20. 4.

Wenn ich in Videos spreche, bin ich nicht echt. Mein soziales Selbst ist eine Lüge.

Ich finde, irgendwas in meinem Sprechen ist gesellschaftlich codiert. Mein Sprechen ist so gebunden an die Menschen, zu denen ich spreche, dass ich gar nicht anders sprechen kann als in einer gewissen Energetik und Fröhlichkeit.

Ich spüre durch klopfen und riechen, dass an diesem gesellschaftlichen Sprechen, an diesem Sprechen zu allen, zu meinen Freunden, etwas nicht stimmt. Dieses Sprechen will über etwas hinwegtäuschen, dieses Sprechen kann etwas nicht ertragen. Dieses Sprechen lässt keinen Platz und keinen Raum für einen Abgrund. Dieses Sprechen ist einem gesellschaftlichen Vorwärts, einer ostentativen Stärke verhaftet.

Doch wenn man Dinge nicht sehen will, läuft man in den Tod. Der Abgrund hört nicht auf Abgrund zu sein, wenn wir vorgeben, dass er nicht existierte.

Mein ganzes Leben ist durchzogen von einem schädlichen Überlebenswillen. Ich lernte ihn von der Gesellschaft. Das Denial ist in sie verwoben.

Dabei funktioniert das Leben genauso, und vielleicht sogar besser, wenn man aufhört, es zu meistern. Wenn man aufhört, stark zu sein, zu bestehen, etwas zu sein. Wenn man sich einfach hingibt den Wellen der Existenz. Wenn man sich treiben lässt vom Rausch der Zeit.

Ich muss sprechen von der Gebrochenheit und der Hoffnung, doch beide sind mir nicht hinzureichend klar.

Die Gebrochenheit ist immer zu suchen. Immer, wenn wir denken, nicht gebrochen und in Scherben zu liegen, wissen wir, es läuft was falsch. Selbst wenn wir im Glück schwimmen und neue Freunde schließen, müssen wir uns bewusst sein, welche Unmöglichkeit da gerade über uns bricht. Wie kurzweilig sie sein wird. Wir müssen sie deswegen mehr achten und genießen. Wir müssen zu ihr beten und sie schätzen.

Es geht nicht darum, das ganze Leben in ein Unheil zu stellen gemäß einer Schoppenhauerischen Pessimistik. Sondern das Leben von unten, vom Rockbottom aus zu begreifen. Vom Moment unserer größten Gebrochenheit. Wir müssen diesen Moment immer wieder suchen und erforschen, denn etwas in uns versucht ihn zu verwischen. Und dann werden wir blind und arrogant, und wir fragen uns mit größter Ahnungslosigkeit, was denn mit uns nicht stimme, was denn unser Problem sei.

Wir dürfen nie vergessen, wie kaputt wir sind, in welchem Verhältnis zur Natur wir stehen, und wie unselbstverständlich unser Hiersein eigentlich ist.

Das, was die Menschen unattraktiv macht, ist ihr Denial.

Es liegt nicht so sehr an meinem Alter, als dass meine wirtschaftliche und menschliche Armut schon zu lange währt. Ich bin völlig ausgehungert und ausgezerrt.

Ich stehe im Schwinden und unter mir raubt die Zeit.

21. 4.

Theorie ist nicht dazu da, rezipiert zu werden. Theorie ist dazu da, in der stummen Kammer der Einsamkeit etwas Liebe zu erwecken. Den Mensch in die Glut der Welt zu stecken. Geborgenheit zu flüstern. Aufenthalt zu gewähren. Das ist Theorie.

22. 4.

Ich will leben, tanzen, und so weiter. Doch der einzige Tanz, den ich zu tanzen habe, ist der meiner Traurigkeit.

23. 4.

Mein Vater bot sich nie an. Ich wusste, dass er mir kein Vorbild bieten konnte, nach dem ich ein Mann werden könnte. Ist das überhaupt wichtig? Wollte ich nicht vielleicht von mir aus lieber eine Frau werden, der Rolle meiner Mutter nachtrachten?

Männer waren nutzlos. Ich hatte Freunde, war in Vereinen. Doch ein Mann sein? Das wollte ich nicht.

Doch jetzt ist es bei mir genauso mit den Frauen gekommen. Ich bin in gleichem Maße enttäuscht von ihnen. Frau sein heißt, an der Schande der Welt zu partizipieren.

Frauen waren die stärkeren Personen in meinem Leben. Personen von Klugheit und Kulturalität.

Das Weibliche ist falsch, ich bin enttäuscht von ihm.

Ein Kind schaut auf zu seinem Vater. Denkt, er trägt in sich Weisheit und Richtung. Später zeigt sich, dort herrscht nur Zerstörung und Verlorenheit.

Ein Kind schaut auf zu seiner Mutter. Denkt, sie ist kulturell und geistig. Warm und beschützend. Später zeigt sich, all das ist nur eine Fassade. Hinter ihr liegt Zerbrochenheit.

Das Weibliche ist eine Behelfsschicht zusammengesetzt, um das Scheitern zu verdecken. Eine Ersatzwelt, um sich in den Ruinen der Liebe einzurichten. Oder genauer: in den Ruinen der eigenen Verlorenheit.

24. 4.

Gestern dachte ich mir, ich kann kein Vertrauen schließen, niemanden an mich ranlassen, habe Angst vor Verletzungen.

Ich kann mich nicht erinnern. Als ich eine Umarmung brauchte, und wirklich eine bekam.

Dieses Kind, was da weint, weint mit roten Backen. Und die Tränen brennen auf der Haut. Traurigkeit wie eine Krankheit, von der mich niemand befreit.

25. 4.

Ist das Schönste an den Menschen nicht die Fassung, die sie uns bringen?

Fassung? Was ist das?

Sie fassen uns ein? Wie ein Becher das Wasser oder wie ein Gedicht die Wahrheit?

Fassen uns die Menschen nicht auch in dem Sinne, dass wir uns für sie verfassen? Wir fassen uns, begreifen uns, um ihnen ständlich zu werden.

Dieses Fassen vermisste ich am meisten ohne die Menschen. Ich habe jetzt eines gefunden ohne sie.

Es gibt eine unabhängige Hermeneutik.

Ich bin ein Jäger und Sammler der Menschen. Doch es gibt die Rast.

Es gibt das Sitzen und Sinnen, im Abendschein der Erde. Der Widerhall der Erde, sich spiegelnd in meiner Ruhe.

Ich beobachte die Sonne nicht untergehen. Sie verhält sich zu meiner Aszendenz.

Das menschliche Leben richtet sich auf die Menschen hin. Doch in den Verletzungen und Rückschlägen, die wir von ihnen erhalten, sitzen wir am Bach – und verarzten uns allein.

*

Es gibt etwas wie eine Metakommunikation. Die Kommunikation zwischen dem Austausch von Information. Oder: wie der Austausch auf einer höheren Ebene organisiert wird.

27. 4.

It is mostly not about the boyfriend, but about what the boyfriend enables her to be.

28. 4.

Etwas anderes tun als sagen. Die Krankheit meiner Interaktion mit Menschen. Es macht mir Angst, wenn sie das tun, ich kann es nicht verstehen. Nun setzt Derrida dieses als tiefemphatische Notwendigkeit ins Bild. Die Menschen widerstreiten zwischen Sich-fügen-müssen der Tradition und dem das sie ergreifenden Verlangen eines Etwas-anderes-sagen-wollen.

Es ist schon eigenartig die Menschen draußen auf der Straße zu beobachten, wie sie von der Arbeit kommen. Mühe haftet an diesem Bild. Die Mühe der Konformität.

Abwesenheit.

Vielleicht war ich es in der Welt.

Ich war abwesend, weil ich mich nicht zeigte.

29. 4.

Vorher gab es die Theorie des Gemeinsamen, die Theorie des Pluralen, die Theorie des Hin-zu-den-Anderen. Das hat mir Kraft gegeben. Kraft, wie es vielen Menschen Kraft gibt, zu lieben.

Doch jetzt sind die Menschen weg. Meine Liebe ist weg. Sehr weg. Und wenn ich von dem »Selbst« spreche, meine ich ein ganz anderes Selbst als früher oder was ich mir vormals vorstellen zu vermochte.

Selbst ist hier etwas, das mir als Gebrochung erschien. Brokening im Englischen. Eine währende Gebrochenheit, etwas Schwelendes. Ein Schmerz. Und etwas, das nie heilt.

Es ist ein Leben vorstellbar ohne Gebrochung, doch in der Praxis existiert es nicht.

Wenn die geliebte Person stirbt. Das ist Brechung. Das bricht uns. Das fügt unserem Menschenleben einen Schaden zu, der durch nichts zu reparieren ist, der nicht vergeht und der nicht heilt. Das ist unsere Gebrochung.

Wenn die geliebte Person mich nicht liebt, nicht lieben kann. Sie stirbt. Oder etwas stirbt in mir. Das ist die Hauptgebrochung unser aller Menschen. Es steckt in uns. Die Gebrochung, eklatant nicht geliebt worden zu sein. Auch in einem gesellschaftlichen Sinn. Oder in einem naturhaften Sinn. Dass die Welt, so wie sie sich uns bereitet, nach unserem Tod, nach unserer Vernichtung trachtet, und es nichts gibt, außer unsere tröstende Anerkennung dessen, das uns davor beschützen könnte. Wir sind hilflos, wir sind gebrochen, der Tod wartet uns auf. Doch der Fakt, dass wir, durch die Anerkennung dessen, unser Überleben denken können, gibt uns als Tränen unser Lebensglück zurück.

Ich wollte so sehr nicht traurig sein, etwas aus meinem Leben machen, wie es in einem Wort von Arendt nachklingt. Doch wozu? Vielleicht geht das nicht. Ich kann es nicht.

Es wird kommen, wenn es kommen möchte. Ich kann nicht mehr. Ich muss mich in die Fluten werfen als kalter Körper. Was mich trägt, ist die Welt, oder Gott. Ich werde nicht untergehen.

Ich durchlaufe nicht eine Trennung von Esther, sondern zu mir kommt ein Schmerz, den ich so lange nicht sehen wollte, und den ich mit der Beziehung zu ihr verdeckte.

Mein Abstieg geschieht in Raten.
Der Körper spricht einfach vor sich hin.

Ein Modell war der Mensch als knüpfendes Wesen, sich knüpfend entlang und zwischen den anderen Wesen, den Wissensfetzen und allem Gewesenem überliefert zu ihm.

Doch was ist das schon? Es reicht nicht.

Es gibt einen Mensch, der ganz vollendet und uneinsichtig ist. Unnachgiebig. Der für sich bleibt.

Ein Text, eine Partitur quillt aus ihm. Und so steht dieser Mensch als Erscheinung.

Es ist ein Selbstsein, wo alles abfällt. Das sich nicht um die Bezüge schert. Denn alles, was ihm zählt, ist, wie die Wirklichkeit in ihn einströmt und da bleibt.

30. 4.

Entscheidend ist, dass die Fröhlichkeit unserer Gebrochung entsteht. Sie muss dem Niederen erwachsen. Dem Gefallenen.

Längste Zeit zeitlebens versuchte ich, glücklich zu sein, dem zu entkommen. Die meisten versuchen das. Meiste Entwicklung, die ich sehe, ist ein Entkommen. Ein Darüber-hinweg-täuschen.

Natürlich auch. Wir wollen dem Schmerz entkommen. Dem was war.

Eine schmerzhafte Verfassung gar? Wie absurd. Das Leben festzuschreiben in seinem Schmerz. Als Tortur.

Wer will das? Schmerz und Trauma, okay. Aber nur, um davon zu heilen, um ein Leben nach dem Schmerz zu beginnen.

Doch dass der Schmerz immer bliebe, ein Leben lang? Und mehr noch, dass dieser Schmerz so etwas sei wie ein Anfangsschmerz und dass der viel größere, eine Regionalität, eine Topographie des Schmerzes, uns sich erst offenbaren würde – wie unscheinbar.

Doch so ist es. Wir erwachsen den Kratern. Sie sind real. Und in ihnen können wir existieren.

Sind wir unseres Schmerzes gewahr, leuchtet unser Lachen voller.

Wir müssen nichts tun. Das Leben ist abgeschlossen und beginnt erneut. Wir sind angekommen. Kein Zyklus, keine Veränderung. Und in dieser Stasis zerspringt die Zeit. Sämtliche Farben der Vergangenheit kommen uns zu. Das Leben ist reicher.

Denn wenn so viel Leben Schmerz ist, ist ein Leben ohne ihn dünn. Untief. Es hüpft an der Oberfläche. Und es ist zerbrechlich. Es muss immer zu sich bewegen. Darf nie schauen, darf nie fallen. Muss sich sichern. Mag die Ruhe nicht, den Stillstand.

Es gäbe etwas zu erreichen. Das wir nie erreichen. Weil wir schon immer da-sind. Wir können der Zeit nicht entkommen. Können zu wenig beeinflussen. Wir können uns nur hingeben der Welt. Und in diesem Hingeben haben wir volle Kontrolle.

Ich kann es nicht erklären. Ich dachte, alles Denken und Sein entsteht nur an und durch Menschen. Doch sie sind fern. Sie machten mich, stecken in meinen Fasern. Doch ich brauche sie nicht als Referenz. Muss nicht nach ihnen trachten.

Die Welt ist so reich, falle ich auf mich allein.

Und so ist es mit der Gebrochenheit. Gebe ich mich ihr hin, strömt Stärke durch mich. Kraft pumpt durch die Zeit. Ich stehe – zum ersten Mal. Ich stehe als Erscheinung, als Waldszene: Wie Licht durch die Tannen fällt, und Staub und Insekten durch den Schein flirren, über den Weg, trocken und warm im Sommer. Eine Erscheinung – unveränderbar. Ganz in ihrem eigenen Begreifen. Und so stehen wir da als einfallendes Licht, als Präsenz dessen, was wir sehen – so stehen wir der Welt. Wir stehen der Welt als Ereignis, als Zutat. Wir passieren ihr, wie Kinder uns passieren. Wie Probleme uns passieren. So passieren wir der Welt. Und in diesem Passieren sind wir unteilbar, kaum analysierbar. Nicht auflösbar. Wir bilden einen ganzen Körper, eine Szene. Nichts kann uns verschieben in dieser Gebrochenheit. Kein Abwägen und kein Zweifel. Keine Fragen – nur Antworten. Die Antworten des Beiseitestehens, des Zustehens. Der Unterstützung uns selbst gegenüber.

Sonst ist die Wirklichkeit zerfasert. Das Persönliche zerfasert. Wir als Paar zerfasert. Doch wenn es um alles geht, sind wir vereint.

Erstmals publiziert: August 2021.
2021, Mai